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Mein einleitender Kurzvortrag zu ‚Amer‘ (Bruno Forzani und Helene Cattet, 2010)

Einleitender Kurzvortrag zu einer Filmvorführung von ‚Amer’ (Bruno Forzani und Helene Cattet, 2010)

Der Begriff Giallo ist nicht nur der italienische Ausdruck für die Farbe Gelb, sondern steht im filmischen sowie im literarischen Kontext für eine regelrechte Flut von Kriminal- und Mystery-Geschichten, die den europäischen Markt in den sechziger und siebziger Jahren mit großem Erfolg regelrecht überfluteten und zahlreiche Schriftsteller, Regisseure und Studios weltweit dazu veranlassten dem Genre und den damit verbundenen Tropen eine gewisse Aufmerksamkeit zu schenken. Der Giallo findet seinen Ursprung in einer Reihe von Groschenromanen, deren gelber Einband ein charakteristisches Erkennungsmerkmal darstellte. Auf dem filmischen Sektor zählen italienische Regisseure wie beispielsweise Dario Argento, Mario Bava oder auch Sergio Martino zu den Pionieren des Genres, deren Einfluss sich wiederum bei Filmemachern wie Brian de Palma, Sean S. Cunningham oder eben auch den für ‚Amer’ verantwortlichen Bruno Forzani und Helene Cattet eindeutig widerspiegelt.

Charakteristisch für dieses Genre sind einige inzwischen fast ikonisch erscheinende Merkmale, auf die ich an dieser Stelle kurz eingehen möchte. Neben der oft sehr reißerischen und kompromisslosen Inszenierung, besticht der Giallo ebenso durch seinen experimentierfreudigen Charakter auf technischer Ebene. Abstrakte Klangkunst und Soundcollagen von Ennio Morricone oder der italienischen Progrock-Band Goblin, unkonventionelle Kameraarbeit und das Verfolgen des Gedankens der Ästhetik des Hässlichen, zeugen von einem ambitionierten Versuch mit minimalen Mitteln eine eigene, in erster Linie assoziative, unkonventionelle Filmsprache zu entwickeln und eine einzigartige und manchmal etwas befremdliche Wirkung zu erzielen, die sich jenseits des Mainstreams bewegt. Viele Genrebeiträge dieser Zeit üben eine einzigartige und intensive Faszination aus die so interessant ist, dass es nicht schwerfallen sollte über technische und dramaturgische Defizite hinwegsehen zu können. Einen konventionellen und in jeder Hinsicht völlig abgerundeten Spielfilm sollte man im Rahmen dieses Genres selbstverständlich nicht erwarten.

Der 2009 produzierte und 2010 veröffentlichte Amer ist interessanterweise aber eben nicht nur eine von Nostalgie durchzogene Hommage an die alte Zeit des italienischen Mystery-, Horror- und Splatterkinos, sondern eine komplette Neu- und Uminterpretation der im Rahmen des Genres immer wiederkehrenden Motive und Handlungseinheiten. Die eindimensionale und häufig etwas grobschlächtige Figurenzeichnung des Genres wird hier ausgearbeitet zu einer interessanten und facettenreichen Persönlichkeitsstudie, greift den Aspekt des Kindheitstraumas auf und arbeitet diesen geschickt aus, ohne dabei jemals die Wurzeln des Genres außer Acht zu lassen. Ganz im Gegenteil, Amer ist sich seiner Wurzeln bewusst und begegnet diesen mit Respekt und der nötigen Ernsthaftigkeit, er hat das essentiell wichtige Element derartiger Produktionen, die befremdliche emotionale Wirkung, den mystischen Sog dieser gänzlich verstanden. ‚Amer’ agiert aus diesem Grund nur bedingt auf der verbalen Ebene, da diese seinen Vorbildern aufgrund hölzerner Dialoge oder kaum vorhandenem Subtext allzu oft zum Verhängnis wurde und unfreiwillige Komik den erwünschten Terror ablöste. An die Stelle der Sprache rückt hier ein Fokus auf die intensive und abstrakte audiovisuelle Erfahrung als maßgeblicher Bedeutungsträger, ‚Amer’ arbeitet die großen Stärken seiner Vorbilder geschickt aus und schafft es diese auf beeindruckende Art und Weise souverän zu übertreffen, diese zu transzendieren. Nichtsdestotrotz ist der Film durchaus als narrativ zu bezeichnen, denn durch seine komplexe Raumsemantik, die  geschickte Montage, das gelungene Sounddesign und die unkonventionelle Ausleuchtung ist er trotz seiner stark reduzierten Handlungsebene im Stande mehr als so manch anderer gewöhnlicher Spielfilm zu erzählen.

Bevor ich euch nun ein paar Ausschnitte genretypischer Arbeiten zeigen möchte, noch ein Zitat der Filmemacher zu ihrem Projekt:

‚At the beginning it was Hélène’s idea to make a film about a girl and her discovery of desire and sensuality. For the two of us, the giallo’s cinematographic language is the best one to develop that kind of thematic.’

Diese Entscheidung ist bedingt durch die Tatsache, dass die Fusion der Aspekte von Gewalt, Jugend und Sexualität innerhalb des Genres immer eine wichtige Rolle gespielt hat und bei nahezu allen Produktionen die Basis der erzählten Geschichten darstellt. An dieser Stelle könnte man unzählige Beispiele nennen, die mit Sicherheit jedoch den zeitlichen Rahmen dieses Abends sprengen würden.  Als maßgebliche Einflüsse nennen die Regisseure in einem Interview mit dem Horrormagazin BloodyDisgusting explizit die folgenden Personen:

 

‚Dario Argento, Mario Bava, Lucio Fulci, Sergio Martino, Tinto Brass […]’

 

‚It’s Belgian-French, but it’s 100% Italian! It’s more giallo and erotic than horror. But don’t expect to have a traditional giallo.’

Viel Spaß beim Film!

(Wolfram Bange, 2011)

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